Niedersachsen

Stadt Nienburg/Weser

Gespalten von Gold und Rot; vorn geteilt, oben im mit neun roten Herzen bestreuten Feld ein reißender, nach vorn schreitender, rotgezungter blauer Löwe, unten eine rotbewehrte, nach vorn zeigende schwarze Bärentatze; hinten, über fünf Mal gezinnter Mauer mit offenem Tor, elf Mal gezinntem Torbogen und silbernem Fallgatter, drei spitz und blau bedachte, dreifach gefensterte silberne Türme mit goldenen Kugeln.

Warum aber sieht das Nienburger Wappen gerade so aus wie auf der Abbildung erkennbar? Jedes Element hat seine spezifische Bedeutung. Beginnen wir mit den Türmen und der Stadtmauer; sie sind der ehrwürdigste Teil des Wappens. Das älteste Stadtsiegel Nienburgs ist im so genannten Hoyer Urkundenbuch abgebildet. Es stammt aus dem Jahre 1215 und zeigt nur die Mauer mit Zinnen und Tor, darüber die drei Türme, ebenfalls mit Zinnen ausgestattet. Der mittlere Turm ist der höchste und trägt ein kleines, aber leeres Wappenschild. Über letzteres kann man lange rätseln, aber da es keine heraldischen Symbole enthält, wäre das Spekulation. Eins jedoch steht fest: während früher solche Darstellungen ausnahmslos als Burg und damit Symbol für die Beherrschung der Stadt durch einen adeligen Landesherren gedeutet wurden, gehen modernere Interpretationen davon aus, dass zumindest die Mauer auf die umwallte Stadt hinweisen will, also durchaus auch den Stolz der Bürger auf das durch sie selbst geschützte Gemeinwesen symbolisiert. Dieses Merkmal ist dem Wappen also schon mindestens rund 800 Jahre lang erhalten geblieben.

Unterstützt wird diese Deutung auch durch die gewählten Farben im linken Feld. Silber und Rot bzw. auf Fahnen Rot und Weiß waren die Farben der im 12. Jahrhundert gegründeten Hanse; viele Hansestädte füh-ren diese Farben. Nienburg war zwar keine Hansestadt, hatte aber schon in der frühen Neuzeit eine selbst-bewusste Kaufmannschaft, die sich mit den Zielen und dem Selbstverständnis der Hanse identifizierte und über Verbindungen zu anderen norddeutschen Städten mit der Hanse assoziiert war.

Nun zu den Symbolen in den Feldern vor dem Spalt, also der Bärentatze und dem Löwen. Die Bärentatze kam im 13. Jahrhundert dazu, nachdem Nienburg ein Besitz der Grafen von Hoya geworden war. Die Wappengeschichte der Hoyaer Dynastie ist zu komplex, um sie hier in allen Details zu beschreiben. Doch durchgängig tritt die Bärentatze als Haussymbol der Hoyaer Grafen in Erscheinung, seit dem frühen 13. Jahrhun-dert stets gedoppelt. Dabei wurden die beiden Klauen nach außen gewendet und unten zusammengewachsen dargestellt. Die Grafen erwarben Nienburg um 1215. Wahrscheinlich setzten sie sich zunächst sehr stark als die neuen Herren in der Stadt durch. Eine überlieferte Darstellung des Nienburger Stadtwappens von 1317 scheint das zu reflektieren. Sie zeigt jetzt die Stadtmauer verschmolzen mit dem Burgturm, daneben die Bärentatze. Diese Version hat mindestens bis 1424 gegolten.

Es dauerte wohl eine Weile, bis sich die Nienburger Bürgerschaft ihrer eigenständigen Position, zumindest in wirtschaftlichen Dingen, wieder vergewissert hatte. Denn erst 1424 kommt ein Siegel in Gebrauch, das neben der Bärentatze wieder eine vollständige Stadtmauer zeigt, hinter der drei Türme aufragen.

Im Jahre 1582 starb der letzte Hoyaer Graf, Otto VIII. Da es keinen männlichen Erben gab, fielen die Grafschaft Hoya und mit ihr Nienburg an die Herzöge von Lüneburg. Diese wichtige territoriale Veränderung sollte sich auch im Stadtwappen niederschlagen, das daraufhin entsprechend ergänzt wurde.

Da die Grafenfamilie von Hoya nunmehr ausgestorben war, erhebt sich die Frage, warum nicht auch die Bärentatze aus dem Wappen verschwand. Nach feudalem Recht einverleibten sich die Herzöge von Lüneburg nicht nur die Grafschaft, sondern waren von jetzt an auch berechtigt, sich neben ihrer Herzogswürde mit dem Hoyaer Grafentitel zu schmücken. Solche Vermehrungen der Adelstitel kann man in der ganzen Geschichte der Aristokratie nachverfolgen. Auch die Herzöge von Lüneburg vermehrten aufgrund des territorialen Zuwachses 1582 ihr Wappen: Wilhelm der Jüngere von Braunschweig-Lüneburg-Celle als erster der neuen Landesherren nahm die beiden Bärentatzen der Grafen in sein persönliches Wappen auf.

Es ist eine Eigenart der historischen Wappen, dass in ihren Symbolen in der Regel die dynastische Geschichte genau nachzuvollziehen ist. So blieb die Bärentatze im Nienburger Stadtwappen und Siegel. Es kam aber etwas hinzu, um die Zugehörigkeit zum Herzogtum Lüneburg zu dokumentieren.

Die Herzöge von Lüneburg zählten zur Dynastie der Welfen. Die Welfen waren ein bedeutendes Adelsgeschlecht in ganz Europa, seit Welf I sein Herrschaftsgebiet um 800 im Raum zwischen Maas und Mosel aufgebaut hatte. Seit dem 12. Jahrhundert stellte ein Zweig dieser Familie die Herzöge von Sachsen. Heinrich der Löwe war ihr berühmtester Vertreter. Als Hausbesitz war ihnen das Gebiet zwischen Elbe und Weser zu Eigen, das 1235 zum Herzogtum Lüneburg avancierte. Ein Löwe als persönliches Symbol Heinrichs war erst-mals im Schild auf seinem Reitersiegel erschienen, überliefert aus dem Jahre 1154. Von 1166 stammte das bekannte Denkmal Heinrichs des Löwen in Braunschweig. Als sich 1267 Lüneburg als zweites Stammland neben Braunschweig herausbildete, hatten die Welfen dafür den Löwen als Wappentier aufgenommen. Der Löwe war dem dänischen Königswappen entnommen, weil sich der jüngste Sohn Heinrichs des Löwen, Wilhelm, mit der dänischen Königstochter Helene verheiratet hatte. Das dänische Königswappen, das allerdings drei Löwen enthält, ist auch mit den herzförmigen Blättern bestreut. Sie waren ebenfalls Ende des 13. Jahrhunderts in das Wappen der Lüneburger Herzöge übernommen worden. Und selbst die Tingierung lehnte sich an das edle dänische Vorbild an: golden der Schild, der Löwe blau, die Blätter rot. Erst ab 1819 begann man übrigens, die herzförmigen Blätter so zu bezeichnen, wie sie aussehen: als Herzen.

Genau dieser Lüneburger Löwe wurde 1586, also vier Jahre nach dem Aussterben der Hoyaer und dem Heimfall von Grafschaft und Stadt an die Welfen, in das Wappen von Nienburg integriert. Dafür wurde das goldene Feld vor dem Spalt geteilt. Der Löwe als höherwertiges Symbol wurde nach oben gesetzt. Eine kleine Variation allerdings erlaubten sich die Nienburger. Für ihre Wappenvermehrung wurde direkt auf das ursprüngliche Löwenwappen zurückgegriffen, das wie das dänische Königswappen neun Blätter bzw. Herzen enthielt, während das Wappen der Herzöge ab 1582 nur noch sieben aufwies. Im Familienwappen der heutigen Welfen enthält das Feld für das Stammland Lüneburg von 1267 allerdings sogar vierzehn Herzen.

Wie man sieht, lässt sich anhand des Wappens der Stadt Nienburg deren ganze Geschichte erzählen – wenn man ein Herz für Historie hat!